Pfingsten?
Gestern Vormittag ging ich ins Museum. Stand lange vor dem Bild Radha in der Gottesferne, gemalt im Geiste der bakhti-Bewegung, in der die Beziehung zu Gott oder zur Göttin als eine spirituelle Liebesbeziehung verstanden wird, ganz im Sinne einer Liebe und Sehnsucht nach dem Unerreichbaren. Ich ging aber nicht der Ästhetik und Semantik hinduistischer Malerei nach, sondern liess zu, dass mir Gedanken kamen, ob passende oder nicht.
Gottesferne? Dieses Gefühl kenne ich.
Vielleicht geniesse ich es sogar ein bisschen. Ab und zu. Als Kulturchrist, der ich aus soziologischer Sicht wahrscheinlich bin. Deshalb nahm ich gestern, voraussagbar, nicht an einem Gottesdienst teil. Obwohl mich das Ereignis, das Christen an Pfingsten zu feiern hätten, eigentlich fasziniert: Einige Jesusanhänger, die seit seinem Verschwinden trotzdem immer noch zusammenhalten, versammeln sich zu einem Erntedankfest. Was immer sie da treiben, sie geraten in eine Art Trance. Reden seltsam daher. Aussenstehende schütten den Kopf. Halten die unverständlich Lallenden für bekifft. Die wild Ergriffenen haben Visionen. Sehen Zungen wie von Feuer. Haben ekstatische Körpererlebnisse. Werden vom Brausen des Geistes, was immer das sein könnte, erschüttert. Jeder äussert sich auf seine ihm eigene Weise. Und seltsamerweise verstehen sie sich alle in diesem nicht nur sprachlichen Durcheinander.
Ich bin übrigens durchaus für Formen transrationaler Erfahrungen, wie ich später noch ausführen werde. Sie gehören wesentlich zum Menschsein.
In den urbanen Zentren des Westens sind immer weniger Leute mit dieser Pfingst-geschichte vertraut, die man natürlich auch anders erzählen kann, als ich es eben getan habe. Das Interesse an der Bedeutung christlicher Feste nimmt ab. Viele sind sogar stolz, dass sie sich scheinbar befreit haben von christlich imprägnierten Traditionen. In Afrika, Südamerika und anderen Weltgegenden dagegen nehmen die Gruppierungen zu, in denen Ausgestaltungen des Christentums florieren, die «wir» nicht gerade für wünschens-wert halten. Wir sind für ein aufgeklärtes Christentum, wenn überhaupt. Uns schaudert, wenn russische Kirchenmänner den menschenverachtenden Angriffskrieg als metaphysischen Kampf gegen die westlichen Werte rechtfertigen.
Wir wollen, dass Religion sich in ethischer Hinsicht unseren Werten fügt, dem Humanismus, den Menschenrechten. Und ja: Die immer wieder neu zu schärfenden Instrumente des Denkens, die uns das Ideal der Aufklärung zur Verfügung stellt, dürfen wir nicht aufgeben, auch wenn sie ursprünglich von alten weissen Männern entwickelt worden sind.
Aber wozu dann noch Religion, wenn sie innerhalb der Grenzen der blossen Vernunft gedacht und gelebt werden soll? Und was sollen wir dann anfangen mit diesem exzentrischen Pfingstfest?
Vor ein paar Tagen erinnerte ein Theologe in einer Diskussion an das Spezifische der christlichen Religion: Sie sei, wir wissen es, die Religion der Liebe schlechthin. Und Liebe heisse, meinte er, miteinander im Gespräch bleiben. So gesehen, hat selbst Pfingsten einen ganz rationalen Kern: Es ist das Gründungsfest der Akzeptanz pluraler Sprachformen. Antifundamentalistisch. Transnational. Individuierend und verbindend.
Der Stifter dieser Gründungsperformance sei der sogenannte Geist gewesen, ein grosser Atem, ein alles durchdringender Wind. Und prompt sagte gestern eine Stimme in mir: Das ist das Problem. Wir wissen nicht mehr, was Geist ist. Er ist für uns nur noch ein Softwareprogramm. Geist im Sinne kognitiver Leistungen kommt zustande, indem wir denken. Er ist das Gedachte. Ist Informationsverarbeitung. Datenverarbeitungskapazität. Wirklich und nachweisbar auch ein materieller Vorgang.
Aber eben: Geist ist noch etwas anderes. Ich spreche jetzt fast wie ein Pfingstgläubiger. Dank dem Impuls des Geistes, der früher «heilig» hiess, kommt gelebtes Leben zustande, die Lust auf sprengendes Denken und nicht nur Denken, der Wille zur Selbstermächti-gung, der letztlich von woanders her kommt. Dieser Geist, den wir metaphorisch als jenseitig erleben und deuten, schlägt über die Stränge. Er rüttelt am Geschirr. Reisst aus der Normalität heraus. Als Pfingstwahnsinn kann er Transformationen bewirken, beglückend, irritierend, vieldeutig. Der begeisternde Geist ist leidenschaftliche Erregung, die uns neue existentielle Räume eröffnet, ein Ankommen auf unverhofften Sinninseln im sonst absurden Welttheater. Oder einen Absturz.
Wäre eine solche Erfahrung in einem Gottesdienst nicht doch möglich? Zum Beispiel im Grossmünster. Mit grossartiger Musik. Das fragte ich mich gestern. Oder bleibt alles fad, weil hauptsächlich nacherzählt wird, was Pfingsten war, und zu wenig, was es ist? Weil wir nicht ins Transrationale hineinbewegt werden. Weil die Rituale nicht ausreichen, um uns eine Tiefenerfahrung zu ermöglichen? Weil die Magie fehlt? Und die Musik das nicht kompensieren kann?
Kirchliches ermöglicht uns kaum mehr Öffnung für das Hereinbrechen lebendiger Wahrheiten, die hinter der erstarrten Wahrheit kollern, rumoren, tanzen. Und nebenbei gesagt, die heutige Kunst auch nicht mehr. Dachte ich gestern, pessimistisch. Zu sehr will sie belehren, statt dass sie überschreitet.
Meine Notizen sollen nun kein Plädoyer sein für pseudocharismatische Pfingstbewe-gungen. Lediglich der Ausdruck meines Fragens, in dem allerdings eine Ahnung schwelt, eine sehnsüchtige: dass Vernunft sich mit dem Transrationalen verbinden könnte. Oder sollte. Dass zumindest der Feier des Lebens häufiger Raum gegeben werden müsste. Nicht als Blödsinn, sondern als Exaltation und Exsultation. Mag sein, in frivolen Kontexten. In Weisheitsbewegungen, die nichts anderes sind als manchmal lichtende, manchmal bunt umschleiernde Verrücktheiten.
Der Geist zeigt sich aber auch im Schein, als Vorschein, als ein NochNicht, das höher ist als alle Verdinglichung. Also unbedingt weiterhin Kunst! Weitende Poesie. Schliesslich aber, so die Hoffnung, soll das Pulsieren des Geistes das Leben erneuern. Auch politisch.
Und ich ging weiter zu den nächsten Bildern.
Am Schluss kommen Radha und Krishna zusammen. Die Gegensätze, die potenziell eins sind, sind nun kinetisch vereint. Bis auf Weiteres.
Herzlich
Martin Kunz
Sturm und Drang
1
Zweihundert Jahre vor dem symbolischen Datum 1968 trat der junge Johann Gottfried Herder eine Reise ins Ungewisse an. Sein Bericht darüber im Journal einer Reise beginnt so:
Den 23. Mai reisete ich aus Riga ab und den 25/5. ging ich in See, um ich weiß nicht wohin? zu gehen. Ein großer Theil unsrer Lebensbegebenheiten hängt würklich vom Wurf von Zufällen ab. So kam ich nach Riga, so in mein geistliches Amt und so ward ich deßelben los; so ging ich auf Reisen. Ich gefiel mir nicht, als Gesellschafter weder, in dem Kraise, da ich war; noch in der Ausschließung, die ich mir gegeben hatte. Ich gefiel mir nicht als Schullehrer, die Sphäre war [für] mich zu enge, zu fremde, zu unpassend, und ich für meine Sphäre zu weit, zu fremde, zu beschäftigt. Ich gefiel mir nicht, als Bürger, da meine häusliche Lebensart Einschränkungen, wenig wesentliche Nutzbarkeiten, und eine faule, oft eckle Ruhe hatte. Am wenigsten endlich als Autor, wo ich ein Gerücht erregt hatte, das meinem Stande eben so nachtheilig, als meiner Person empfindlich war. Alles also war mir zuwider.
Etwas später wird der Text wild, anarchisch:
… die Cultur der Erde! aller Räume! Zeiten! Völker! Kräfte! Mischungen! Gestalten! Asiatische Religion! und Chronologie und Policei und Philosophie! Aegyptische Kunst und Philosophie und Policei! Phönicische Arithmetik und Sprache und Luxus! Griechisches Alles! Römisches Alles! Nordische Religion, Recht, Sitten, Krieg, Ehre! Papistische Zeit, Mönche, Gelehrsamkeit! Nordisch asiatische Kreuzzieher, Wallfahrter, Ritter! Christliche Heidnische Aufweckung der Gelehrsamkeit! Jahrhundert Frankreichs! Englische, Holländische, Deutsche Gestalt! – Chinesische, Japonische Politik! Naturlehre einer neuen Welt! Amerikanische Sitten u. s. w. – – Grosses Thema: das Menschengeschlecht wird nicht vergehen, bis daß es alles geschehe! Bis der Genius der Erleuchtung die Erde durchzogen! Universalgeschichte der Bildung der Welt!
Wir nennen jene Generation „Stürmer und Dränger“. Die jungen Aufgeregten plädierten für das Originalgenie, für den höhern Menschen, den Künstler, der alle Formen sprengt. Leidenschaft, Ursprungsnähe, Wildheit gelten mehr als kanonische Schönheit. Es war eine Bewegung der Dichter und Denker, theatralisch, noch wo es um Lyrik ging. Der Philosoph Johann Georg Hamann wandte sich gegen das systematische Denken: Wahrheiten, Grundsätzen, Systemen bin ich nicht gewachsen. Brocken, Fragmente, Grillen, Einfälle. Ein jeder nach seinem Grund und Boden.
Diese jungen Leute wollten befreien vom Korsett der Form und zielten auf intensive gefühlshaltige Momente. Wer diese Bewegung überlebte, wurde mit dem Alter ruhiger. „Klassik“ nennen wir jene Zeit, in der das Anliegen galt, die Ordnung im Sinne von Harmonie und Humanität wenigstens literarisch wieder herzustellen.
2
Schon um 1800 gärte es erneut unter den Jungen. Die sogenannten Romantiker hatten genug von der vollendeten Formenwelt der Klassik. Sie plädierten noch einmal für das Ich und seine Erweiterungen, für eine Verspieltheit des Lebens durch die Vereinigung von Geist und Natur, von Endlichkeit und Unendlichkeit. Die angestrebte Lebensform war poetisch, was allerdings nur als verzehrende Sehnsucht, als ewiges Streben zu haben ist. Die typische Ausdrucksform der Romantiker war das Fragment, die Improvisation, die Arabeske. Der grosse Traum war die Verschmelzung von Mythos und Logos. Die Freunde Hölderlin, Schlegel, Hegel schrieben stürmisch und drängend:
Wir müssen eine neue Mythologie haben, diese Mythologie aber muß im Dienste der Ideen stehen, sie muß eine Mythologie der Vernunft werden.
So müssen endlich Aufgeklärte und Unaufgeklärte sich die Hand reichen, die Mythologie muß philosophisch werden und das Volk vernünftig, und die Philosophie muß mythologisch werden, um die Philosophen sinnlich zu machen. Dann herrscht ewige Einheit unter uns. Ein höherer Geist, vom Himmel gesandt, muß diese neue Religion unter uns stiften, sie wird das letzte, größte Werk der Menschheit sein.
3
Seiher kam es immer wieder zu solchen Gegenkulturen, von einzelnen oder Gruppen formuliert und gelebt, etwa von Bohémiens oder Lebensreformern und Avantgardisten. Die Futuristen zum Beispiel riefen aus: Wir wollen die Liebe zur Gefahr besingen, die Vertrautheit mit Energie und Verwegenheit. So lautet der erste Programmpunkt des Futuristischen Manifests aus dem Jahre 1909.
Es überrascht wohl nicht, wenn ich jetzt auf die 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts zu sprechen komme. Die Bewegungen jener Zeit waren alles andere als homogen. Während die einen Makel love not war sangen, schlossen andere Gewalt nicht aus: Sie war ja immer nur Gegengewalt.
So heterogen jene Zeit war - es gab einen Grossen Sound, der alle verbunden hat: der Sound der Rock- und Popmusik. In jenen Jahren wurden neue Kommunikationsformen gefunden; was Kultur ist, wurde neu definiert; man suchte eine neue Sprache und Praxis der Liebe und die Erziehung wurde im Sinne der humanistischen Psychologie oder der Kritischen Theorie radikal neu bestimmt. Das Prinzip Hoffnung beflügelte uns, und die Bücher der kritischen Philosophen gaben Stoff her, um nächtelang zu disputieren. Wir waren gesellschaftskritisch, ziemlich verstiegen, die Einlösung unserer Utopien war unsere Naherwartung.
Es ging uns einerseits sehr gut. Ich konnte um des Studierens willen studieren und nicht, um Punkte zu sammeln. Aber etwas in uns war zutiefst verärgert und verstimmt. Im Gegensatz zu unsern Eltern und Lehrern verurteilten wir die Rolle der Amerikaner im Vietnamkrieg. Aus dem Muff des Elternhauses, der Institutionen, der Moral, der Politik mussten wir ausbrechen, wir suchten Befreiung, Befreiung aus der kollektiven Engstirnigkeit. Wir hatten Hunger nach Wissen und nach dionysischen Erfahrungen, nach Grenzüberschreitungen, nach einer Counter Culture. Natürlich muss man das heute kritisch sehen, und die Betroffenen haben sich jene Zeit mit Selbstironie zu vergegenwärtigen - bei allem Stolz, der einen befallen könnte, wenn man den Historiker Eric Hobsbawm sagen hört: In jenen Jahren fand die grösste und dramatischste, schnellste und universellste Transformation der Menschheitsgeschichte statt. Besserwisser benützen jene Bewegung aber als Projektionsfläche für ihre Wut auf alles Mögliche.
4
Die obere Mittelschicht sollte nicht vergessen, dass sie ihre Credos, die heftig um Selbstverwirklichung kreisen, eine späte Wiederaufnahme der Kerngedanken der 68er sind. Nur hat sich unterdessen gedanklich und lebenspraktisch, was einst Protest war, mit dem Neoliberalismus amalgamiert.
Authentizität und Kreativität, Bildung und Ästhetisierung des Lebensvollzugs, Echtheit und kosmopolitisch ausgerichtete mehrdimensionale Identität - das galt 1968 als avantgardistisch und ist unterdessen typisch für das Konsumbürgertum, selbst noch die damals berüchtigte Autoritätskritik. Ironischerweise hat sich, was einmal Outsiderhabitus war, unterdessen aufs wunderbarste eingefügt ins Leben der gebildeten Mittelschicht. Die Bausteine des gelingenden Lebens – damals kritisch gegen alles Bürgerliche gewendet – sind jetzt selbst bürgerlich geworden. Man brüstet sich mit seinen Wohnformen und Kochkünsten, seinem Modeverständnis, seiner urpersönlichen Art und Weise der Selbstinszenierung und mit den Plänen, die man für seine originellen Kinder hat. In paradoxer Weise ist Kreativität nun nicht mehr der Modus des Anders-, sondern des Angepasstseins. Nicht zuletzt deshalb entstehen lauter Widersprüche, etwa in der Erziehung und Bildung. Jedes Kind ist etwas Besonderes und bedarf individuell optimierter Förderung. Gleichzeitig wird es zunehmend an Standards gemessen, muss pisatauglich sei. Was man damals mit laisser faire zu erreichen hoffte, muss heute durch concerted cultivation erreicht werden. Aber auch unser Konsumverhalten ist widersprüchlich: Man konsumiert munter, erfährt gar im Konsum, zum Beispiel im Genuss ausgesuchter Weine, so etwas wie Sinngebung und versteht sich gleichzeitig gerne als Konsumrebell. Man plädiert für mehr Freiheit und Vermehrung der Optionen und trägt dennoch die Bürokratisierung des Alltags und der Institutionen widerspruchslos mit. Man ist Demokrat und zweifelt doch an der Demokratie, wenn die, die falsch liegen, wieder einmal obsiegen.
5
Die positive Kraft der Stürmer und Dränger, der Romantiker und der 68er stand im Dienste der Ich-Steigerung und der Erweiterung der Lebensformen. Heute wird der Sturm von Menschen mit ganz andern Anliegen entfacht. Wer nicht zur erfolgreichen Gruppe der sich selbst feiernden Oberen gehört, sucht sich sonderbare Identifikationsmöglichkeiten, befürwortet gegen die eigene Intelligenz politische Verengungen, um seine Identität zu finden. In immer mehr Ländern formieren sich Wut- und Hassgruppen, völkisches Vokabular wird reaktiviert. Man verkleidet sich avantgardistisch, um rassistische Slogans zu predigen. Feinde werden gesucht, erfunden, magisch beschworen, wirkliche Feinde und Drahtzieher verkannt. Über Scheinprobleme wird energisch diskutiert.
Aber auch das Sinnen jener, die an der Aufklärung festhalten, erspürt das grosse Ganze nicht erhellend genug. Es ist zu abstrakt. Unsere innere Organisation erschwert es, längerfristig über den eigenen Kreis hinauszufühlen. Ethik hilft nicht. Wahrscheinlich sind wir uns zwar einig in der diffusen Ahnung, welches die grossen Fragen der Menschheit sind, aber schon beim exakten Benennen sind wir es nicht mehr. Verständlicherweise kreisen unsere Sorgen vor allem um die eigene Zukunft und um die der Kinder.
In der Ichhaftigkeit der einstigen Stürmer und Dränger steckte als Kern noch das Allgemeine, universalisierter Geist, der Genius der Erleuchtung, der die Erde durchziehen soll (siehe oben).
Wir haben – trotz Globalisierung - diesen grossen, fast religiösen Blick nicht mehr. Selbst die Perspektive von Berufsdenkern verengt sich immer häufiger, etwa wenn Norbert Bolz, Professor an der TU Berlin und Autor vieler, durchaus auch lesenswerter Bücher, zwar für einen stolzen Drang zur Unabhängigkeit und Freiheit plädiert, allerdings bloss für die einen. Feministinnen, Homosexuelle und kritische Kulturschaffende bezeichnet er abwertend als Normalisierer des Abnormalen oder gar als geistesgestört.
Vielleicht hat er das in Interviews flaxig Gesagte nicht so gemeint, wie es tönt. Solche Denkfiguren werden aber von Engstirnigen gerne aufgenommen, die stets die ersten sind, die angeblich Lösungen haben. Lösungen sind aber nicht das, was wir zuallererst brauchen. Es begänne mit Besinnung. Wir müssten einerseits – und dies ganz für uns - ins alte Chaos hinabsteigen und uns dort wohlfühlen, wie Ludwig Wittgenstein gefordert hat, wohl wissend, dass aus dem innern Sturm manchmal tanzende Sterne geboren werden. Wir müssten andererseits ruhiger werden - und dies öffentlich. Es braucht Exzentriker der Besonnenheit und der Stille, der Begegnung und des wirklichen Gesprächs. Wenn Bürgerinnen und Bürger die demokratisch Gewählten für „die da oben“ halten, stimmt etwas nicht. In einer extrem individualisierten Gesellschaft ist die politische Repräsentation „des Volkes“ nicht einfach. Das wachsame Volk war eine Idealvorstellung der Französischen Revolution: Wachsamkeit heisst Reflexion, die auch auf der Strasse stattfinden kann, sie ist aber nicht Geschrei und Talkshow. Die Rolle der Medien wäre in diesem Zusammenhang, dem öffentlichen Geist zu dienen, so wie Hannah Arendt ihn verstanden hat. Ihr schwebte ein Raum des Politischen vor, in dem die Leidenschaften des Herzens, die Gedanken des Geistes, die Kunst der Sinne in einer für öffentliches Erscheinen geeigneten Form stattfinden. Das Gemeinsame ist das, was uns verbindet, aber auch trennt. In diesem Raum sollen deshalb nicht nur einzelne auftreten wie auf einer Bühne, sondern es sollte ein Miteinander-Reden stattfinden, durch das der einzelne lernt, dass man die Dinge auch anders sehen kann. Politik wäre, mit den Vielen redend zu verkehren und das Viele zu erfahren, das in seiner Totalität jeweils die Welt ist.
Freiheit ist, sich von sich wegzubewegen, um die Dinge von andern Seiten her zu erschliessen.
In schlaflosen Nächten traue ich manchmal nicht einmal mehr der Reflexions- und Imaginationskraft der Künstler und Philosophen, also auch der meinen nicht. Wir wollten einst die Phantasie an die Macht bringen. Und wir haben alles demonstrativ überhöht und inflationär verzerrt. Und die jungen Menschen heute? Ihr vielfältiges Engagement, ihr Interesse und Desinteresse ist verdeckt. Es gibt keine fassbare Stossrichtung. Und wenn sie tanzen, dann nicht über die Grenzen ihrer Klubs hinaus. Die Unübersichtlichkeit der Lage und etliche Sorgen verbinden uns. Weltweit rumort es dagegen in Schichten, die ihre Phantasielosigkeit für zukunftsträchtig halten. Sie wissen definitiv, dass in ihrem WIR kein Platz ist für die ANDEREN. Was soll man ihnen - und uns - wünschen?
Martin Kunz
Wahrheit
Vor ein paar Tagen fiel mir beim Schmökern in meiner eigenen Bibliothek ein Büchlein in die Hand, das mir mein Vater zur Konfirmation geschenkt hat – das Handbüchlein der Philosophie von Paul Häberlin. Wozu wollte mich mein Vater damit anregen? Häberlin war Philosoph, Psychologe, Pädagoge – und Theologe. Anfänglich Pfarrer, wurde er anschliessend Lehrer, später Direktor eines Lehrerseminars und schliesslich (von 1922 bis 1948) Professor für Philosophie, Psychologie und Pädagogik an der Universität Basel. Er kannte C.G. Jung sehr gut – beide wuchsen im gleichen Dorf auf – und er war befreundet mit Ludwig Binswanger. Er schrieb mehr als 30 Bücher, u.a. Wissenschaft und Philosophie, Grundfragen der Erziehung, Der Geist und die Triebe und Allgemeine Ästhetik. Ahnte mein Vater, dass ich eines Tages lebensbestimmend in diese Themenfelder hineingeraten würde? Oder waren es die Fragen, die in diesem Handbüchlein aufgeworfen werden, bzw. die Antworten, die meinem Vater imponierten?
Die erste der 60 Fragen lautet: Gibt es überhaupt unbedingte Wahrheit? Schon im dritten Satz heisst es dann, dieser Satz sei unbedingt zu bejahen. Und worin besteht diese unbedingte Wahrheit? Dass ich bin, ist wahr. Was der Satz „Ich bin“ meint, ist gar die Urwahrheit. Diese auszulegen, ist der Sinn der Philosophie. Philosophie ist Bewusstmachung dessen, was wir heimlich immer gewusst haben.
In seinen andern Büchern zeigt er immer wieder auf, wie das zu verstehen ist. Philosophen wollen wissen, wie es ist, und zwar nicht anscheinend oder vermutlich, sondern eigentlich. Wahrheit ist Offenbarheit dessen, was ist. Und die Einsicht als eine Art Sehen ist es, die uns das Verständnis des Seienden erschliesst. Was bringt uns das? Es bringt uns die Möglichkeit, das Leben wirklich wissend zu gestalten. Wahres Wissen führt zu einsichtigem Verhalten, indem es mir den Sinn weist. Wissen ist Sinnsetzung. Und zwar nicht subjektiv gültige, nicht als Seinsvermeinung, sondern an sich, als unbedingte Wahrheit. Ihr Impuls ist immer bedroht: durch Traditionen und Dogmen, durch unser Abstützen auf Empirie, unsere Skepsis und unsern Hang zum Relativismus. Traditionalismus ist für Häberlin blosser Glaube, Empirie ist empiristische Trübung, Relativismus Ausdruck von Mutlosigkeit, Schwäche, Verzweiflung. All diese Anfechtungen stecken aber im Philosophen drin. Philosophie ist deshalb immer kritische Philosophie. Kritik aber heisst nichts anderes als Selbstkritik, Auseinandersetzung mit mir selbst. Insofern ist Philosophie immer dialektisch. Der Philosoph führt einen permanenten Kampf gegen investierte Unwahrheit und gegen die eigenen Entgleisungen. Wahre Einsicht kommt von woanders her. Sie ist nie Konstruktion. Konstruktion ist Ersatz für mangelnde Einsicht.
Es geht aber nicht nur um die Philosophen. Der Philosoph unterscheidet sich von andern nur durch seine spezifische Energie des Wahrheitswillens. Jeder Mensch ist nach Häberlin wahrheitswillig. Die Urwahrheit Ich bin ist absolut unerklärlich, aber aufschliessbar, sie ist nicht Rätsel, sondern Geheimnis.
Das Subjekt will letztlich nicht das Subjektive, sondern das Objektive. Sein Gewissen ermöglicht ihm die an der Objektivität orientierte Selbstbeurteilung. Ein Mensch ohne Gewissen ist ein Widerspruch in sich selbst. Wir sind zwar inkarnationssüchtig, vitalbestimmt, aber fähig, den objektiven Sinn subjektiv zu bejahen. Das wäre Geist, Kultur: die Anstrengung, die Lebensaufgabe zu lösen.
Warum sind wir uns denn nicht einig, wenn es um diese ersten und letzten Fragen geht? Es gibt nur eine Wahrheit, aber wir sind als Menschen unvollkommen, das heisst: Alle Differenzen, die wir haben, sind die Folge von abergläubischen Resten in uns, das sind Stimmungen und Modephilosophien, denen wir anhängen. Umso mehr ist unsere Aufgabe das Streben nach unbedingter Wahrheit und dadurch nach der Liebe zur Weisheit.
Ist es nicht wohltuend für uns Skeptiker, Relativisten und Verflüssiger, für einmal innezuhalten und uns auf solch emphatisches Philosophieren einzulassen? Der Fake-Verfallenheit mächtiger Männer und unserer eigenen Weisheitsferne den Gedanken d e r Wahrheit entgegenzuhalten?
Martin Kunz
EROS
Der Mensch ist das Lebewesen, das es sich leisten kann, nicht rigoroser Realist zu sein. Jürgen Goldstein
Eros ist der Gott, dank dem Gaia ohne Begattung aus dem Chaos die Welt gebiert. Eros – der erste Gott und Schöpfer, der Vieldeutige und Rätselhafte. Wie hat er Gaia befruchtet? Er ist einerseits die ursprüngliche Liebe, eher schon älter, weisshaarig, jenseits von scharfer Trennung von Mann und Frau. In der Kunst mag er mit Schmetterlingsflügeln erscheinen und mit einer Ziege; als Gott, der den Bogen spannt; als nacktes Baby neben Venus. Der erste Gott wird verniedlicht, verkindlicht. Zuletzt noch wird er ein Putto, ein Ornament. Was für merkwürdige Verwandlungen!
Bei Platon kommt er zu philosophischer Ehre, nicht zuletzt dank Diotima. Eros ist nun der Verbindende. Er ist das Zwischen, ein Drittes zwischen gut und schlecht, zwischen Sterblichen und Unsterblichen. Er ist Mittler und Vermittler. Dank ihm bleibt das heterogene Ganze in sich verbunden. Er sucht das Schöne, neigt dabei zu göttlichem Wahnsinn. Und all das befähigt ihn zu einer ihm eigenen Erkenntniskraft. Er weist den Weg in seliges Innesein, aber auch in Aufwallungen. Wer von ihm unwillentlich ergriffen wird und mit ihm Umgang hat, ist ein „dämonischer“ Mensch – das Gegenstück zu einem Banausen.
Eros: der Gott des atmosphärischen Zwischenraums. Metaxy. Wer da hinein verwickelt wird, dessen straff und stramm abgezirkelte Erlebniswelt gerät in Verwirrung. Die Landschaft, die für andere bloss Landschaft ist, offenbart dem Ergriffenen den in ihr schlummernden Traum. Die, die sich in dieser Trance aufs sprossende Gras niederlassen, ziehen eine Wolke über sich, eine goldene, und es fallen hernieder glänzende Tröpfchen Tau, wie Homer singt. Die Stadt, die der gestresste Geschäftsmann gar nicht mehr sieht, wird für den erotisierten Flaneur zu einer Wunderkammer. Die monochromen Alltagserwartungen verwandeln sich in exotische Phantasien, denn der verzauberte Stadtstreicher nimmt nicht scharf wahr, was ist, er analysiert nicht, er wird zum Medium des Vagen.
Und geht es schliesslich um eine Frau – um aus der Perspektive des erotisch träumenden heterosexuellen Mannes zu sprechen, so wird aus ihr eine Fee, eine Königin, Aurora, eine Versuchung. Der sonst so verblüffungsresistente Hardliner vergisst sich, wenn er getroffen wird. Wenn er IHR begegnet. Die Poesie der Situation überwältigt ihn, sie führt ihn zu Gefühlen von Selbststeigerung. Andere vermuten eher, er sei verblendet. Er aber liebt seine Blindheit um eines höhern Sehens willen. Der nüchterne Psychologe wird dem so Verwirrten allerdings raten, diese Wahrnehmungen als Projektionen zu durchschauen. Er müsse versuchen, diese Frau so zu sehen, wie sie sei. Der Verzauberte lehnt diese Trivialisierung ab. Sie soll der Stern seiner Seele bleiben. Sie ist Leben, Abgrund und Erholung. Sie ist Musik.
Auch den frühen Theologen missfiel dieser Zauber. Augustinus versuchte scharf zu trennen zwischen der Liebe, die von oben kommt und der, die angeblich von unten komme. Woher aber kommt Eros? Er ist ja das Zwischen, hebt Herkünfte auf, indem er sie verbindet. Dieses Nicht-Unterscheiden scheint gefährlich zu sein. Himmel und Hölle kommen sich unberechenbar nahe. Noch wo es in der Bibel erotisch zugeht, wie im Hohelied, muss umgedeutet werden: Du sollst nicht glauben, diese Lieder seien erotisch und voller Leidenschaft, warnte im 4. Jahrhunder Bischof Cyrill von Jerusalem. Es sind nur Allegorien.
Das Eros-Geschehen hat etwas Mystisches. Seine Farbe ist so gesehen nicht so sehr das Rot, sondern das Blau. Weite und Sehnsucht. Der Kuss, die Berührung, ob imaginiert oder verwirklicht, ist Wiederaufnahme eines Berührtseins von Ewigkeit her. Zwar bin ich „nur“ in persönlichen Wirbel und Taumel hineingerissen, es ist aber zugleich ein grosses Ereignis: Die Sterne beugen sich voll Sympathie über die Erde, schrieb Virginia Woolf. Alles ist kosmisch und ist doch nur Zigarettenqualm. Blauer Dunst. Wirbel, Windhauch, Wispern. Das Sinnliche ist die Essenz des Lebens.
Die Mehrdeutigkeit der blauen Begegnung, in der alles nicht ganz real, höchstens halbnackt sein will, mag in die rote Eindeutigkeit der sexuellen Vereinigung münden – oder auch nicht. Eros lässt das offen. Verschmelzung ist auch in der Imagination möglich. Eros hat nicht mit Gaia geschlafen. Aber sie hat Götter geboren. Als Frauen noch Musen sein durften, aktivierte das unbewusste Hin und Her zwischen Frau und Mann im besten Fall ein kreatives Potential, das beide erfüllt hat. Klärt man das realistisch auf, wird es banal.
Wollen wir uns wieder für das Zwischen öffnen? Für das „It“ - in modifizierter Anlehnung an den Film mit Clara Bow aus dem Jahre 1927. Für eine Kultur des erotischen Geistes? Für das gewisse Etwas zwischen Metaphysik und Körper? Werden wir Expertinnen und Experten der erotischen Andeutung und Vollendung!
Martin Kunz
Religion?
Ethik, also die Fragen des persönlichen und kollektiv gelingenden Lebens, seien ohne Religion nicht zu begründen, warf kürzlich jemand in einem Gespräch ein. Philosophie genüge nicht. Letzteres
mag ja stimmen. Aber inwiefern helfen uns die etablierten Religionen, wenn uns existentielle Fragen bewegen?
Die ethische Mitte des Christentums ist die Botschaft der Liebe. Diese Botschaft ist so radikal, dass wir sie immer wieder relativieren müssen. Die Geschichte des Christentums, insofern sie eine
Geschichte von mächtigen Institutionen und damit immer auch von Exklusion, Streit, Entwürdigung von Andersdenkenden und Mord ist, bietet Material genug, um diese Relativierungen zu
studieren.
Die schlimmsten Schattenwürfe mögen hinter uns sein, doch nach wie vor trennen theologische Konstrukte und verdinglichte kirchliche Praktiken die unterschiedlich Glaubenden. Immer mehr
aufgeklärte Menschen schütteln den Kopf über diese von Menschen gemachten Hindernisse. Viele bewegen die Spitzfindigkeiten der Herrschaftstheologie nicht mehr, und sie fühlen sich mit
Andersgläubigen in versöhnter Verschiedenheit verbunden. Die Frage ist aber, inwiefern die Besinnung auf sogenannte christliche Werte die ethische, lebenspraktische oder auch politische Haltung
eines Menschen bestimmen kann. Gibt es d a s Christentum überhaupt? In welchen uns aktuell bewegenden Fragen vertreten die Christen die gleichen Werte? Das Liebesgebot hilft offenbar
lebenspraktisch kaum weiter, denn:
Es gibt Christen, die sprechen sich für die Möglichkeit der Abtreibung aus, andere Christen lehnen sie strikte ab. Es gibt Christen, die sind für die barmherzige Aufnahme von Flüchtlingen, andere
nicht. Die einen Christen sind überzeugt, dass die unterschiedlichen sexuellen Ausrichtungen Gott wohlgefällig sind, andere glauben genau zu wissen, wie Gott unterscheidet und was Sünde ist.
Viele Christen trennen klar zwischen wissenschaftlichen Erkenntnisformen und religiösen Deutungen, andere vermengen Wissen und Glauben und lehnen zum Beispiel die Erkenntnisse der
Evolutionsforschung ab usw. Und alle argumentieren mit der Bibel oder mit Argumenten, die sie für den Kern der christlichen Botschaft halten, oder fachtheologisch. Worin besteht nun also das
Christliche? Offenbar gibt es gar keine klaren christlichen Werte.
Ob ich also in meinem Leben Weitherzigkeit, unkonventionelle Deutungen und Praktiken von Lebensgestaltung favorisiere oder ob ich eher dogmenhörig und autoritätsgläubig zu leben versuche oder
Mischungen davon, wird nicht durch meine Zugehörigkeit zur christlichen Wertegemeinschaft, die es im Singular nicht gibt, bestimmt. Wodurch denn dann?
Es ist der Stand meiner Entwicklung, meine psychosoziale Einbettung, meine persönliche Mixtur von Bedingtheit und Freiheit und meine Bewusstseinsarbeit, die meine Entscheidungen lenken. Diese
persönliche Gleichung schliesst nicht aus, dass jemand in wichtigen Entscheidungssituationen, in sogenannten Krisen, eine Art überpersönliche Erfahrung macht. Wer in ein existentiell bedeutsames
Umdenken hineingerissen wird, erlebt diese Situation oft als unerhört, als wäre etwas Unbedingtes ins Spiel gekommen, als etwas Erhabenes, als würde ein grosses Ja gesprochen jenseits von
Begründungen. Grosse Aha-Erlebnisse, die zu Weichenstellungen führen, sind so etwas wie Erleuchtungen. Ein Erwachen.
Spreche ich jetzt nicht selber religiös? Doch. Aber dieses „Religiöse“ kommt letztlich nicht von Kirchen und formatierten Konfessionen und Bekenntnissen her. Es ist schwer zu benennen, was es
ist. Fast nur abgedroschen lässt sich darüber reden. Was immer es ist: Es war vor allen ausgestalteten Religionen schon am Wirken. Die Religionsstifter waren Medien von etwas, das in der mentalen
Evolution angelegt und zur Ausformulierung bereit war. Religionen sind Vehikel.
Was wir aus den heiligen Büchern herauslesen, lesen wir, so gesehen, in sie hinein. Jede Epoche, jeder einzelne favorisiert bestimmte Deutungsstränge. Wir hängen an jenen Mythen, Geschichten und
Konstrukten, die uns ansprechen. Wir theologisieren uns das zusammen, was der Zeitgeist will und was uns in den Kram passt. Fragen und Antworten können ja gar nicht anders als in jenen
sprachlichen Formen ausgedrückt werden, die in einem bestimmten Zeitraum zur Verfügung stehen. Trotzdem erscheint es uns oft so, dass wir in entscheidenden Momenten von etwas berührt werden, das
quer zu dem spricht, was einfach nur der Fall ist. Der Grosse Hintergrund, das Umfassende (Karl Jaspers), das absolute Wissen des Unbewussten (C.G. Jung) offenbart sich nicht
so, wie es unsere vorgefassten Meinungen und Moralvorstellungen gerne hätten. Deshalb faszinieren uns die Mystiker, die Ketzer, die aus Gehorsam Ungehorsamen, vielleicht sogar die grossen
Verneiner. Hören nicht auch sie gelegentlich auf eine – für sie aus dem Nichts kommende – ichtransformierende Botschaft?
In den Religionen, ihren Bildern und Büchern und in der Tradition religiöser Reflexion sind – neben allerhand Unfug - Schätze zu finden, poetische Tiefe und Keime von Humanität, auf die
einzulassen sich nach wie vor lohnt. Wo wir uns aber von diesen Geschichten, Überlieferungen und Ritualen nicht mehr verstanden fühlen, mag uns eine etwas gewagte Zuversicht beflügeln: Das
Enttäuschende an Religion, ihre Torheiten werden eines Tages von der Vernunft überwunden werden und an die Stelle verkleideter Wahrheit werden Formen von noch ungeahnter Weisheit treten. Diese
tanzt schon seit eh und je im Hintergrund, will uns öffnen für die Grazie eines immer und nie gelichteten Rätsels. Wer mich findet, findet das Leben, sagt sie (Sprüche 8, 35).
Ein Gesprächsteilnehmer, dem nicht mehr recht wohl war in der Runde, fragte überraschend: Was würde wohl Jesus Christus sagen, wenn er hier plötzlich einträte? Er würde uns
möglicherweise ein Gleichnis der Liebe erzählen, eine humoristische, ironische oder paradoxe Geschichte, antwortete ich. Und wir müssten auslegen, deuten, unterscheiden und klären. Schon deshalb
braucht es auch Philosophie.
Martin Kunz
Am Sonntagmorgen gehe ich gerne ins Museum, meist in eine Halle für neue Kunst. Oder ich gehe in ein Konzert. Andere schlafen vielleicht noch oder brunchen mit Freunden oder mit ihren Kindern, machen sich auf zum Joggen oder nehmen an freikirchlichen Veranstaltungen teil. Schon in meiner Kindheit war das so: Mein Vater besuchte mit mir Kunstausstellungen, meist zeit-genössische, wenn wir den Besuch des Gottesdienstes für einmal ausfallen liessen. Er rang mit der modernen Kunst, vieles verwarf er, aber sie zog ihn immer wieder an. Einer, den er nicht verwarf, war Giorgio Morandi. Er – und ich – wir bewunderten die Intensität der Zurückhaltung, mit der seine Stilleben gemalt sind, diese Dinge des Alltags, die sich dem Betrachter entziehen und sich ihm zugleich zärtlich annähern. Meine Mutter war übrigens nie mit dabei, wenn es um bildende Kunst ging. Sie zweifelte daran, dass Gott Freude haben kann am menschlichen Nachäffen der Werke des Schöpfers.
Der Schöpfer ruhte bekanntlich am siebten Tag und feierte von all seiner Arbeit, die er machte. Was macht er eigentlich seither? Feiert er den ewigen Sonntag, nach dem wir uns ja irgendwie sehnen? Der Sonntag, der für die bürgerlich tätige Bevölkerung noch zweideutiger ist als für jene Privilegierten, die das Glück haben, dass für sie Arbeit und Erfüllung listig sich verschränken - der Sonntag lässt aufscheinen, was sein könnte. Er lässt aber unbefriedigt, weil sein eigenes Versprechen unmittelbar zugleich als unerfülltes sich darstellt, wie Adorno in den Minima Moraliaschreibt. Gerade deshalb konnten uns einst kirchliche Stunden des Innehaltens, ihre Rituale darüber hinwegtrösten, dass nichts ist, wie es sein könnte. Noch nicht. Gerade deshalb gibt es überhaupt Kunst, die grosse Rivalin der Religion, die im Schein stimmungsvoll in Ordnung bringt, was in der Wirklichkeit nicht stimmt, oder umgekehrt, unserer Erkenntnis dienend, gekonnt noch mehr entstellt, was in der Welt ungekonnt falsch gestellt ist. Das gilt wohl auch von der Musik. Sie erinnert, dient unseren Sehnsüchten und unserer brüchigen Hoffnung. Kunst ist Feier, die sich der Abgründe allen Feierns bewusst ist. Der Schlager, der Herz auf Schmerz reimt, trifft da nicht weniger Existentielles als etwa Beethovens Neunte, die mich am Schluss freundschaftlich umschlingt, aber genau deshalb auch Skepsis weckt.
Schon als Jugendlichen hat mich in den Gottesdiensten das Orgelspiel oder der Gesang professioneller Chöre mehr ergriffen als die Predigt. Den Gemeindegesang und das Abendmahl, dem in seiner reformierten Gestalt gerade abgeht, was es ist, nämlich ein Mysterium, fand ich eher peinlich.
Deshalb also eher ins Museum gehen, in diesen andern Sonntagsraum, Tempel, abgegrenzten Deutungsbezirk?
Ja, aber im Bewusstsein, dass die hier eingesperrte Kunst als Entsperrung geschaffen worden ist. Kunst hat ihre Aufhebung im Sinn: Würde sie Lebenskunst, nicht nur als subjektiv richtige Gestaltung im objektiv Falschen, hätte jeder Tag etwas vom siebenten Tag. Wäre die düstere Tränenschnur, die sich um den Nacken der Welt legt, gelöst (Else Lasker-Schüler), würde sie sich erübrigen. Soweit wird es nie kommen, obwohl Kunst wie auch Philosophie die Dinge zu betrachten hätten, wie sie sich vom Standpunkt der Erlösung aus sich darstellten (Adorno).
Darf man heute noch ein solches Verständnis von Kunst und Philosophie haben?
Künstlerisch und philosophisch gelungen wäre dann das, was durch alles hindurch ein auratisches Woher und Wozu aufleuchten lässt, eine nostalgie du dimanche, die irritiert, tröstet und beflügelt in einem.
Jemand hat kritisch angemerkt, sich heute noch „Philosoph“ zu nennen, sei ein Anachronismus. Gilt das vielleicht auch von der Bezeichnung „Künstler“? Kürzlich habe ich eine junge Frau, die eigenschöpferisch tätig ist, gefragt, ob sie sich überhaupt noch Künstlerin nenne. Sie sagte: Ja, weil Künstlerin oder Philosophin zu sein eine Lebensform ist. Das ist Wasser auf meine Mühle.
Trotz Morschholz
Fehlguss
Gallimathias
Bleibt feucht und quick
Seid ernst und lacht
Geniesst die Gunst der Stunde
in einer Runde ohne Zwang
und ohne Haschen nach Getue
Als Netz die Kunst
Als Utopie die Freundschaft
ohne falsche Maschen
Heute Nachmittag treffe ich ein paar Freundinnen und Freunde. Was uns verbindet, ist wahrscheinlich trotz allem so etwas wie ein kritischer Lebenskunstglaube. Wir haben vor, in aller Musse aufeinander einzugehen, in Schönheit zu streiten, zu genießen und zu lachen und so in sonntäglicher Sorglosigkeit Ansätze von Freiheit zu erfahren. Falls es gelingen wird, erfüllt sich vielleicht, was eine chinesische Volksweisheit meint: Einen Tag ungestört in Muße zu verleben heißt, einen Tag lang ein Unsterblicher zu sein.
Martin Kunz
Kreuz
Einer meiner Freunde versucht immer wieder, mich vom Humanismus abzubringen. Warum? Weil es, so der Freund, letztlich nicht um den Menschen gehe, sondern um Gott. Man mag irritiert sein über dieses Argument, aber ich lasse mich nun einmal auf sein Gedankenspiel ein. Ich will aber diesen Gedanken, improvisierend, wider die Absicht des Freundes gerade humanistisch denken, nämlich so:
Auch Gott ist noch nicht bei sich. Es bedarf des Menschen, der erkennend und handelnd Gott zu sich kommen lässt. Unsere Aufgabe ist es, das Werden Gottes, also das Werden des Umfassend-Menschlichen zu ermöglichen: dadurch, dass ich von mir absehe, um etwas Grösseres in den Blick zu bekommen, aber wieder auf mich zurückgewiesen werde, weil dieses Grössere mich braucht. Das Absolute wird sich seiner selbst bewusst, indem es relativ wird. Die anstössigste Geschichte, die von einem Gott erzählt wird, ist die, dass er Mensch geworden sei.
Gott ist prototypisch Mensch geworden, um seiner Vollendung näher zu kommen. Er hat das bloss Jenseitige überschritten (oder unterschritten), indem er sich inkarniert hat. Er hat alle abstrakte Metaphysik hinter sich gelassen und liess sie zu „Physik“ werden: Er ist Fleisch geworden, Leib, Seele, konkrete Gestalt. Ein realisiertes Kunstwerk. Blosse Metaphysik ist blauer Dunst, aber wenn ein Gott sich herablässt, wird aus himmlischer Unverbindlichkeit irdischer Ernst. Gott selbst wird Atheist. Der Logos wird nicht mehr nur gedacht, er wird konkret. Die Erde bedarf des Konkreten. „Konkret“ kommt von concrescere: miteinander wachsen. Es genügt nicht, gläubig zu sein. Es genügt nicht, an den Mensch gewordenen und gekreuzigten Gott zu glauben. Es geht darum, dass ich selber zum Schnittpunkt von zwei Achsen werde: radikal horizontal und radikal vertikal, radikal diesseitig und radikal anders. Einerseits ganz zoologisch, andererseits alles Zoologische überschreitend. Um es heideggernd zu sagen: Das Dasein selbst ist immer schon der Überschritt.
Gott ist also ein vollständiger Mensch geworden, Existentialist: Mensch, der nicht das ist, was er ist, und der das ist, was er nicht ist (Jean Paul Sartre), mutig umherschweifend, mal da, mal dort wirkend, mal liebend, mal zornig. Er pflegt unkonventionelle Beziehungen. Er ironisiert Dogmatiker, zeigt Wege auf, die zur Wahrheit des Lebens führen könnten, indem er selber einen solchen Weg geht. Indem er klärt, verwirrt er. Er spricht, indem er parabolisiert (parabolare, in Gleichnissen reden: der Ursprung allen Parlierens). Er will uns etwas zeigen von einer befreiten Zustandsform, die fern und doch ganz nah ist, in uns und in Reichweite unserer Hände. Und er liebt es, sich zu widersprechen.
So verschmelzen in meinem Gedankenexperiment Theologie und Anthropologie, indem sie zur Reflexion einer poetischen Praxis des umfassenden Seins werden. Schnittpunktreflexion. Im Schnittpunkt der Achsen vollzieht sich die Ästhetik der Existenz. Das ist nicht Honigschlecken. Ans Kreuz kann man gehängt werden. Das ist die Realität. Ostern dagegen ist eine Hoffnung. Denken wir beides zusammen, könnte das zu einer neuen Ontologie führen, zu einer neuen Unordnung von Möglichkeit und Wirklichkeit. Der Mensch würde sichtbar als das Wesen, das die Schönheit der Freiheit nur haben kann als Tragikomödie, die zunächst einmal mit dem Tod endet. Im sich [MK1] erneuernden Menschen ist der alte aufgehoben. Keine leichte Aufgabe stellt sich da. Mit Sport und Diät ist das nicht zu haben.
So weit, skizzenhaft und anfechtbar, ein paar Aspekte eines möglichen Humanismus unter Berücksichtigung der Metapher Gott (oder der Realität Gottes?). Die bisherigen Humanismen sind in der Tat neu zu denken. Sie waren zwar immer schon auf den aufrechten Gang ausgerichtet, ihre Vertreter waren aber meist auf einem Auge blind. Sie haben stets irgendetwas vernachlässigt oder jemanden vergessen: Menschen anderer Hautfarbe, die Frauen, ganze Kontinente, die Verantwortung für die Mitgeschöpfe. Sie waren auf verhängnisvoll eingeschränkte Weise anthropozentrisch: erklärten den bleichen Europäer der gebildeten Klasse zum Universalmodell.
Was müsste also an einem neuen Humanismus anders sein? Unter anderem unser Verständnis des sogenannten Guten, also auch des Bösen, der abgespaltenen Dimension, der Hölle, in die wir ja immer nur die andern schicken. Auch durch das Gute weht der Wind der Negation. Und das Böse ist der Erkenntnisgrund des Guten. Aber vielleicht wäre es besser, solche substantivierten Adjektive überhaupt zu vermeiden. Es gibt ein Jenseits von Gut und Böse. Wir wissen es seit Nietzsche, seit den Pionieren der tiefenhermeneutischen Psychologie: Wir sollten gestalten statt spalten.
Manche vermuten, dass wir an einem neuralgischen Punkt der Evolution stehen. Beginnen wir erst jetzt zu ahnen, was das Kreuz auch bedeuten könnte - dieses seit der Steinzeit archetypisch dunkel leuchtende Symbol? Wird sich bald ein neuer Umgang mit Differenzen, eine neue Form von Kreativität zeigen, die der bisherigen spottet? Ein Sowohl-als-auch sondergleichen? Neue Manifestationen, Inkarnationen kreuzfideler Andersheiten?
Oder kommt es sogar so weit, dass wir das mühsame Bild des Kreuzes gar nicht mehr brauchen? Weil uns ein integraler Modus von Denken und Fühlen aufgeht? Weil wir die Sprache der Nondualisten begriffen haben und ihre Einsicht endlich leben können: Verbindungen / Ganzes und Nichtganzes / Zusammengehendes und Auseinanderstrebendes / Einklang und Missklang / aus Allem Eines und aus Einem Alles? (Heraklit)
Unwahrscheinlich.
Martin Kunz
Aber
Es ist gerade die Geistesverfassung des Durchschnittsmenschen, die der Ethik das grösste Rätsel aufgibt. Giorgio Agamben
Wir können es nicht fassen, wir Künstler, Humanistinnen und Feministen. Wir, die wir doch auf der richtigen Seite stehen. Wir können es nicht fassen, dass sich Menschen an wichtigen Schaltstellen geistlos äussern, ungehobeltes Zeug verbreiten, heute dies, morgen das, und dass sie so viel Zulauf haben. Zum Beispiel Politiker, die in die Macht verliebt sind, die sich über Regeln des Anstands, der Menschenwürde, der Achtung vor Andersdenkenden und anders Lebenden plump hinwegsetzen, die sich über wissenschaftliche Erkenntnisse lustig machen und Dinge versprechen, die sie nie halten werden. Oder religiöse Führer, die die spirituellen Bedürfnisse der Menschen missbrauchen und Hass schüren statt Barmherzigkeit auszustrahlen. Die unterschiedlichsten Verführer und Vereinfacher eint, dass sie ein ungutes Spiel mit unserer Angst vor dem Sturz ins Nichts spielen, die berechtigte Sehnsucht nach emotionalem Zuhausesein missbrauchen und die unmündigen Seiten in uns erreichen wollen.
Aber sie faszinieren viele, und zwar nicht obwohl sie so sind, sondern weil sie so sind. Ihre Kraft und ihre Ausstrahlung haben sie gerade wegen ihrer angemassten Souveränität und Definitionsmacht, wegen ihrer Unkorrektheit und ihrem unumschränkten Willen zur Selbstherrlichkeit. Wie unspektakulär ist dagegen ein Politiker, der in echter Auseinandersetzung mit den Problemen um Lösungen ringt, oder ein religiöser Lehrer, der die Herzen der Menschen weiten will.
Was sich draussen abspielt, findet in gewisser Hinsicht auch in uns selber statt. In unserem inneren Parlament tummeln sich allerhand Figuren, die wir, wären es Kerle in der äusseren Wirklichkeit, als kriminell bezeichnen oder als psycho-pathisch pathologisieren würden. Was heisst das nun, dass diese Gestalten in uns, innerseelisch, in Träumen und Phantasien auftauchen? Es heisst, dass es nicht nur an den andern liegt, dass die Welt so ist, wie sie ist. Die Wahrheits-umdreher, Schlawiner und Angeber sind auch in mir und würden sich auch in meinem Leben gerne autokratisch durchsetzen. Aber die Firnis der Zivilisation, dieser zum Glück wirksame Schutzanstrich, verhindert in der Regel das Schlimmste.
Nach ein paar Gläsern Wein mit tagsüber politisch korrekten Freunden und Freundinnen kann jedoch die schattenhafte Gegenwahrheit schneller als erwartet zum Vorschein kommen, wie ich kürzlich erlebt habe. Plötzlich wechseln die Feiernden die Perspektive, und Zweifel an unsern Regulativen kommen auf, an unserem Verständnis von Gleichheit, an unseren Sexismus- und Rassismus-verdikten, an den Inklusions-und Toleranzkonzepten. Bewunderung für die Inkorrekten kommt auf. Die feucht durchfeierte Nacht widerlegt die Aufklärung. Aber es wird ja wieder Tag.
Aber wir sollten die Nacht nicht zu rasch wegreden. Das Dunkle imponiert. Sogar die Kunst lebt, noch wo sie sich dagegen sträubt, von gefährlichen Mächten. Welch wunderbare Musik ist entstanden dank religiösen Texten, die Gott als Zertrümmerer feiern. Sich die Hölle auszumalen ist allemal inspirierender als das Frohlocken im Himmel.
Bevor wir losziehen, um gegen die da draussen zu kämpfen, sollten wir nochmals durchs eigene Haus streifen, und zwar nicht nur durch das sonnendurchflutete Wohnzimmer. Es gibt in Nebenräumen und Untergeschossen Mitbewohner, die treiben es ziemlich bunt, sind übergriffig, politisch dumm, wahnsinnsanfällig. Und gerade die unterdrückten Untermieter möchten am liebsten zu Alleinherrschern werden. Es ist im Grunde erstaunlich, dass so viele Menschen einigermassen vernünftig sind (und eine Instanz in sich haben, die ihnen unter anderem abrät, sich als Opfer zu definieren, selbst wenn sie es sind.)
Damit wir verstehen lernen, warum umgekehrt viele andere auf die Arroganz und den dubiosen Charme trüber Machthaber und Prediger hereinfallen, müssen wir uns selber verstehen. Es ist zwar interessanter, bei andern Fehler zu finden. Aber wir müssen auch im eigenen Keller nachschauen. Mit den begrabenen Hunden ins Gespräch kommen. Das ist nicht so einfach, lässt sich kommunikationskosmetisch nicht lösen.
Seit über zweitausend Jahren fordern die Philosophen Selbsterkenntnis. Wer sich auf sie einlässt, den führt sie unter anderem zu einer schlichten Erkenntnis: Es ist unwahrscheinlich, dass ich besser bin als du. Zu dieser Einsicht kommen wir, wenn wir unsere eigenen Ungereimtheiten, kleinen Bösartigkeiten, Besserwis-sereien und Überheblichkeiten, die zunächst ja einigermassen harmlos sind, wenn wir also unsere eigenen halb verwirklichten, halb unterdrückten Lebens-bagatellen anschauen. Einfach mal anschauen. Ihre latente Monstrosität wahrnehmen.
Und dann unsern Moralismus aufgeben.
Wie? Muss ich denn nicht für das Gute kämpfen? Endlich mal konsequent werden? Ich bin überzeugt, dass Sokrates Recht hatte, als er auf die Grenzen unseres Wissens hingewiesen hat. Wissen, vor allem angebliches Wissen um das definitiv Gute, führt, wenn es gelebt wird, meistens ins Böse. Es nicht so genau zu wissen ermöglicht menschengemässe ethische Entscheidungen. Die innere Stimme von Sokrates, sein Daimonion, war keine zum Guten auffordernde Stimme: Über dem Logos, sogar über dem Willen der Götter wirkend, warnte sie lediglich vor einem Schritt, der vernünftig zu sein schien, aber es nicht war. Der Mehrheit des Volkes, das faustdicke Antworten will, und den Mächtigen gefiel das gar nicht. Sie verurteilten ihn zum Tode.
Dieses Aber ist das Problem. Beziehungsweise die Lösung. Inwiefern? Was heisst das für unsern Humanismus und Feminismus und alle andern progressiven Ismen?
Wenn wir dieses Aber verstanden haben, dürfen wir hinausgehen und für das Gute kämpfen.
Martin Kunz
Ein paar Überlegungen zum Projekt Aufklärung heute
Warum ist Aufklärung ein Projekt? Weil ihre Anliegen noch nicht erfüllt sind und wohl kaum je erfüllt sein werden. Aufklärung ist der Wille, die Umstände, in denen wir leben, zunehmend nach Massgabe der Vernunft zu interpretieren, zu gestalten und zu verändern.
Die erste Aufklärung, die zur Zeit der Vorsokratiker anhebt, hatte das Anliegen zu zeigen, dass wir die Welt immanent erklären können, ohne die alten Götter, ohne die Verhältnisse als Schicksal hinzunehmen, ohne den Kosmos projektiv mit Wesenheiten auszustatten, die wir dann wiederum als Mächte zu erfahren glauben. Wir verfügen über Ratio, die die Verhältnisse durchschauen kann und will. Die Welt ist durch das Medium der Vernunft aus sich selber heraus zu verstehen, „physikalisch“, wenn auch nicht unbedingt ohne Metaphysik, nicht ohne jenes Denken, das das Seiende als Seiendes in Frage stellt.
Die zweite Aufklärung im 17. und 18. Jahrhundert setzte diese Radikalisierung fort. Als rational gilt in der Moderne, was argumentativ wohlbegründet ist und vom Subjekt, das sich seines Verstandes autonom denkend bedient, verantwortet werden kann. Wir haben im Prinzip die Fähigkeit, die Welt dank dem Verstehen derUrsache-Wirkung-Ketten immer stimmiger, also sogenannt wissenschaftlich, zu erklären.
Aufklärung auf diese zwei historischen Momente zu beschränken, ist natürlich eine Vereinfachung. So müsste u.a. auch die Renaissance thematisiert werden. In ihr entfaltete sich eine erotische Feier der Lebenskraft, die die Grenzen mittelalterlicher Abwehr sprengte, eine Art Vernunft des Bildes, ein Aufbegehren gegen neugierdelosen Glauben, eine Hinwendung zur Welt. Zu zeigen wäre überhaupt, wie zu allen Zeiten sporadisch Momente von Vernunft zum erklärten Bildungsziel wurden, wie Aufklärung zunächst für eine intellektuelle Elite, schliesslich sogar für alle thematisiert wurde. Als Beispiel erwähne ich die Stiftungsurkunde der Universität Wien von 1365, in der als Stiftungszweck das Gemeinwohl, gerechte Gerichte und das Wachstum von Vernunft und Bescheidenheit festgehalten ist. Jeder weise Mensch soll vernünftiger und jeder unweise zu menschlicher Vernunft gebracht werden.
Aufklärung wollte und will Klärung aller Verhältnisse im Lichte der Vernunft. Sie ist mythenkritisch, tritt gegen Erzählungen an, die das Getragensein in einem umfassenden menschlich-übermenschlichen Deutungsraum fraglos behaupten und in dem Zweifler, Kritiker, Häretiker zu schweigen haben. Sie tritt gegen Aberglauben an.
Aufklärung kann bescheiden und emphatisch verstanden werden. Bescheiden etwa so: als die Tradition des zur Routine gewordenen Mutes zur unaufgeregten Nüchternheit (Odo Marquard). Anspruchsvoller wäre dagegen ein Verständnis, das Aufklärung versteht als Sabotage des Schicksals: Lasse dir von niemandem einreden, das einmal Gesetzte sei unumstösslich. Emanzipation aus Bevormundung, Befreiung von zu Unrecht als letztgültig Behauptetem ist das Ziel. Daraus folgt dann der Kampf gegen jene, die, was sie nicht verändern wollen, naturalisieren oder mit „göttlichen“ Gesetzen, heiligen Büchern, Berufung auf Autoritäten usw. zu verewigen trachten und intellektuellen und politischen Aufbruch torpedieren.
In Friedrich Schillers Don Carlos hält Marquis Posa dem König entgegen, dass nicht nur der König König sei, jeder soll König über sein eigenes Leben werden. Der Mensch ist mehr, als Sie von ihm gehalten. Des langen Schlummers Bande wird er brechen…Geben Sie Gedankenfreiheit! Der König aber murmelt: Sonderbarer Schwärmer!
Aufklärung heisst: den Blick zu schärfen für verschleiernde Argumentationen und den Mut aufzubringen, sich dagegen zu wenden – im Namen der Vernunft. Vernunft ist die Instanz, die Normen argumentativ begründet, Normen, die grundsätzlich die Befreiung des Menschen aus selbst- und fremdverschuldeter Unterdrückung ermöglichen sollen. Allerdings: Was Vernunft ist, war schon unter den alten Aufklärern umstritten. Vernunft ist von Anfang an Vernunftkritik. Immerhin haben ihre Bestimmungen im Verlauf der Zeit einen ganzen Katalog von Deklarationen und Forderungen hervorgebracht.
Zum Programm von Aufklärung gehört im Wesentlichen Folgendes:
1
Wir Menschen sind vernunftfähig, aber Vernunft ist nicht einfach gegeben. Sie bedeutet Arbeit. Zu fragen ist immer wieder, was Vernunft eigentlich ist, und wie das Woher zu fassen ist, von dem her sie sich selber in Frage stellen kann und muss.
2
Wir Menschen sind freiheitsfähig. Auch Freiheit ist nicht einfach gegeben. Sie hat zahlreiche immer wieder zu erarbeitende Facetten und sie ist im Zusammenspiel mit Gerechtigkeit zu gestalten. Immanuel Kant formuliert einen wesentlichen Aspekt der individuellen Freiheit elegant: Niemand kann mich zwingen, auf seine Art glücklich zu sein…
3
Wir haben Würde, die uns von Dingen und wohl auch von andern Lebewesen abhebt. Sie ist sowohl Wesensmerkmal wie kultureller Gestaltungsauftrag. Was aber ist eigentlich gemeint mit dieser Würde?
Früh begründet wurde sie vom Aufklärer und Naturrechtsphilosophen Samuel von Pufendorf (1632–1694), der so argumentierte: Der Mensch ist von höchster Würde, weil er eine Seele hat, die ausgezeichnet ist durch das Licht des Verstandes, durch die Fähigkeit, die Dinge zu beurteilen und sich frei zu entscheiden, und die sich in vielen Künsten auskennt.
4
Wir - das heisst: jeder einzelne ist als mündiger Bürger in hohem Masse verantwortlich für seine Lebensgestaltung.
5
Wir sind verschieden. Trotz dieser Verschiedenheit bestehen Formen von Gleichheit: Gleichheit besteht 1. im Recht auf toleriertes Andersseindürfen, 2. im Anspruch auf Gleichstellung vor dem Gesetz, 3. im Recht auf die Möglichkeit zur Partizipation an gesellschaftlichen Prozessen und auf den Zugang zu den Institutionen im Sinne der Chancengerechtigkeit.
6
Wir haben das Recht auf Bildung, insbesondere auf Informationen, die dazu dienen, die Welt wissenschaftlich zu erklären.
Was Wissenschaft ist, steht nicht einfach fest. Grundsätzlich sind wir uns einig, dass es dabei um ein begründetes, geordnetes Hervorbringen von Erkenntnissen geht, die so kommunizierbar sind, dass sie überprüft werden und den Anspruch von überpersönlicher Geltung erheben können.
7
Wir müssen uns selber und einander ermutigen, autonom zu denken. Was Autonomie ist, haben wir immer wieder zu klären.
8
Wir haben die Pflicht zu überlegen, was Solidarität heisst, und haben das Ergebnis unserer Überlegungen mit der Schaffung von Institutionen und in individuell gelebten Formen lebenspraktisch umzusetzen.
9
Wir haben unsere Kommunikations- und Umgangsformen im Rahmen der Tradition des Humanismus, der Menschenrechte, der demokratischen und rechtsstaatlichen Spielregeln zu gestalten.
Zu fragen ist darüber hinaus, ob es so etwas wie ein Gewissen gibt, eine Instanz, der wir gleichsam Numinosität beimessen dürfen und die über jedem bürgerlichen Kodex steht.
10
Wir sind die Erfinder und Gestalter der Institutionen. Diese sind für die Menschen da und nicht umgekehrt. Der Aufbau, die Struktur und die Machtverhältnisse von gesellschaftlichen Einrichtungen müssen transparent sein. Den politischen Akteuren ist die Macht nur geliehen.
11
Wir haben immer wieder politisch zu klären, was die Funktion des Staates sein soll. Eine seiner Hauptaufgaben ist das Verhindern von Grausamkeit. Die Herleitung seiner Wertebasis muss unabhängig von religiösen Überzeugungen stattfinden.
12
Wir haben als Individuen das Recht auf eine gewisse Intransparenz, auf Refugien der Privatheit. Das Private ist jener Bereich, zu dem nur ich Zugang habe und allenfalls jene, denen ich Zugang gewähren will.
13
Wir haben das Recht auf individuell gewählte Sinndeutungen, für deren Ausgestaltung Individuen und Gruppen Anspruch auf Toleranz haben. Toleranz heisst: Ich teile deine Meinung nicht, aber ich würde dafür kämpfen, dass du sie ungestraft vertreten darfst – mit immer wieder zu diskutierenden Einschränkungen.
14
Wir sind zusammen mit nicht-menschlichen Lebewesen Mitbewohner von Systemen auf einem beschränkten Planeten. Wir haben uns die Frage zu stellen, was es heisst, Respekt zu haben vor dem Lebensrecht anderer Lebewesen.
Vergessen wir nicht: In weiten Teilen der Welt sind diese Ansätze nicht vorbehaltlos akzeptiert. Das individuelle Selbstbestimmungsrecht in Fragen von Religion, Glaube und Weltanschauung ist der Tradition vieler Länder fremd, die Errungenschaften von Demokratie, Rechtsstaat und Bildung entweder noch nie erreicht oder pervertiert. Wir Vertreter der Werte der Aufklärung halten diese für universalisierbar. Leider müssen wir feststellen, dass selbst im abendländischen Raum in gewissen Kreisen an diesen Werten gezweifelt wird - und nicht nur gezweifelt: Mit dem Schüren von Ängsten und einem Repertoire von Theorien, die dem Projekt Aufklärung zuwiderlaufen, werden berechtigte Bedürfnisse nach emotionaler Identifikation von Bürgerinnen und Bürgern missbraucht.
Pluralismus, Freiheit, Solidarität und Toleranz – diese Grundsätze liessen als gelebte die Menschheit menschlicher werden. Sie müssen politisch erkämpft, aber nicht despotisch durchgesetzt werden.
(Martin Kunz, Auszug aus: Ist Vernunft mehr als eine Fackel in einem Kerker? Zürich 2015)